toll: wir spielen sozialhilfe kürzen!

Am 19. Mai 2019 stimmen wir im Kanton Bern über die Revision des Sozialhilfegesetzes (SHG) ab …
Teil 2: Würde, Sippenhaft und Ehrlichkeit.

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Scham wurde zu einem ständigen Begleiter und ich bin fast daran zerbrochen!

Ich bin dankbar, dass ich 1959 in der freien Schweiz, im freien Teil Europas, geboren wurde und immer noch hier leben darf. Wäre ich dazumal anderswo, in Afrika, Südamerika, Asien oder hinter dem Eisernen Vorhang geboren, wäre ich wegen meinem kritischen Geist keine 30 Jahre alt geworden und wahrscheinlich in irgendeinem Stadion oder Gulag verrottet.
Und, ich glaube, ich weiss wovon ich spreche. 1986 war ich als ziemlich unfreier Fotograf das erste Mal in Moskau unterwegs. Ich war im Hotel Ruanda und habe in den Slums von Dhaka gelebt, die Kollateralschäden des Bürgerkrieges in Ex-Jugoslawien fotografiert, habe die offene Drogenszene im Letten und unzählige Flüchtlingslager anderswo und hier gesehen. Halt die ganze Scheisse, wenn Politiker wieder einmal versagt haben.

WÜRDE
Ohne meine ehemalige Lebenspartnerin, die mir immer wieder Bargeld zusteckte und mit mir den Monatseinkauf gemacht hat oder ohne das Entgegenkommen meines ehemaligen Vermieters, der mir die Miete für  meine Wohnung reduzierte, wäre ich finanziell nicht über die Runden gekommen.
Da ich mir die Gastgeschenke oder den gemeinsamen Restaurantbesuch nach dem Tauchen mit der Zeit nicht mehr leisten konnte, habe ich immer wieder neue Ausreden erfunden, um Einladungen oder verein-barten Terminen nicht nachkommen zu müssen. Wie tief ich gefallen war, merkte ich auch immer wieder von Neuem, wenn ich Abzahlungs-vereinbarungen für Steuern und andere offene Rechnungen aushan-delte oder den Sozialdienst für das Sponsoring eines Mountainbikes bitten musste.
Der Genussmensch, der sich für Kultur, Politik und Menschen interes-sierte war einmal. Ich habe mich vereinsamt und das soziale Leben fand meistens nur noch mit mir statt. Zum Glück gab es Rollläden. Licht und andere Menschen habe ich in dieser Zeit immer schwerer ertragen können.

Das Leben mit Sozialhilfe hat viel mit mir und meinem Selbstwertge-fühl gemacht. Scham wurde zu einem ständigen Begleiter und ich bin fast daran zerbrochen! Aus einem grosszügigen, positiv denkenden Menschen mit vielen Interessen ist in dieser Zeit ein rappenspaltender, negativ denkender Mensch geworden. Die Wut auf mich und meine Umwelt hat mich aufgefressen.

Für mich war es immer selbstverständlich, dass ich Eigenverantwortung trage, die Konsequenzen meines Handelns reflektiere und immer wieder das Beste aus einer Situation mache.
Darum hätte ich dazumal nie gedacht, dass ich so tief fallen kann, dass man mich so tief fallen lässt! Dazumal in einem anderen Leben als ich noch akkreditierter Bundeshausfotograf und offizieller Fotograf der Eidgenossenschaft (ja, das war ich einmal) war und im Bundeshaus und auch immer wieder im Berner Rathaus ein- und ausgegangen bin, als wäre es mein Zuhause.

Ein wenig mehr als 2 Jahre nach dem Mountainbike Unfall 2005, der mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hat, versuchte ich am 8. Januar 2008 ein erstes Mal, mir Hilfe für meine berufliche Zukunft zu holen. Im Berufsberatungs- und Informationszentrum des Kantons Bern (BIZ)
hat man mir geraten eine Lehre im fotografischen Bereich zu machen.
Das war die ganze Hilfe – und ich war noch keine 50 Jahre alt …

Als es mit Aufträgen, mit dem Umsatz und meinem Selbstwertgefühl immer weiter bergab geht, melde ich mich beim RAV an und besuche am 14. Mai 2012 den obligatorischen Informationstag. In erster Linie denke ich noch nicht an finanzielle Unterstützung, sondern vor allem geht es mir und das Stellennetzwerk, welches mir ein RAV bieten könnte. Auch wenn ich als Selbstständiger immer ALV-Beiträge bezahlt habe, habe ich kein Anrecht auf die Leistungen einer Arbeitslosenkasse und damit auch kein Anrecht auf die Dienstleistungen eines RAV und so wird aus diesem Plan leider auch nichts. Das war die ganze Hilfe – und ich war noch keine 55 Jahre alt …

Sippenhaft
Wenn ich mich für eine günstigere Wohnung beworben habe, war beim Wort Sozialhilfe die Bewerbung schon erledigt. Begegnungen auf Augenhöhe von anderen mit mir als Sozialhilfeempfänger wurden selten und sehr oft wurde ich gefragt, warum ich nicht einer geregelten Arbeit nachgehe. Manche die wussten, dass ich Sozialhilfe beziehe, haben mich schräg angeschaut. Als ich ein neues iPhone «kaufte» oder mit dem neuen, vom Sozialdienst teilweise bezahlten Mountainbike auftauchte, hatte ich das Gefühl, dass hinter vorgehaltener Hand über mich gesprochen wurde.
Als ich letztes Jahr bei meiner Versicherung eine Mietkautionsver-sicherung abschliessen wollte, wurde mir diese wegen eines Schuld-scheins bei der gleichen Versicherung verweigert. Ich sah mich immer mehr als Randständigen und hatte das Gefühl, mich für Alles und Jedes rechtfertigen zu müssen. Das Stigma der Sozialhilfe begleitet mich die ganze Zeit.

Mit der geplanten Revision des Sozialhilfegesetzes wird die Schraube noch einmal angezogen, noch mehr Misstrauen gesät und das Funda-ment für eine Unterschicht definitiv zementiert …  vom Staat legali-sierte Sippenhaft halt. Mit der geplanten Revision beginnt das grosse gegeneinander ausspielen. Alt gegen Jung, Alleinerziehende gegen Familien, Alleinstehende gegen Paare, Schweizer gegen Migranten.
Die SozialarbeiterInnen auf den Sozialdiensten des Kanton Bern werden damit definitiv zu Verwaltern von Randständigen degradiert.

Zum Glück durfte ich ab 2009 am E-Learning Projekt/Portal der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe mitarbeiten. Das brachte ein wenig Stabilität. Aber nur für kurze Zeit. Anfang 2013 hatte ich nichts mehr, was ich auf ricardo.ch oder sonst wo zu Bargeld machen konnte und ich musste das erste Mal Sozialhilfe beantragen. Kurze Zeit nach der ersten Überweisung hatte ich nach über 500 Bewerbungen endlich Glück und durfte ich mich bei 2 Arbeitgebern vorstellen. Call-Center oder Flughafen … ich konnte am Schluss sogar auswählen.
Leider wird im Herbst 2013 bekannt, dass der Berner Home-Carrier nur haarscharf am Aus vorbeifliegt und mir gleichzeitig bewusst, dass ich einen Arbeitsvertrag auf Abruf habe. Die folgenden Monate bis zur fristlosen Kündigung meiner Mitarbeit am E-Learning Projekt/Portal im August 2015 überlebe ich. Mehr aber nicht.

Am 2. September 2015 ist dann endgültig fertig mit mir. Ich funktioniere nicht mehr und lande in der Psychiatrie. Da mein Stundenlohn gemäss Berner Skala nur für 2 Monate weiterausbezahlt wird, werde ich wieder für Sozialhilfe angemeldet. Ab Mai 2016 kann ich wieder, wenn auch nur sehr beschränkt, mit der Arbeit auf dem Berner Flughafen beginnen.
2017 erfüllt mir mein Sozialdienst einen grossen Wunsch und finanziert bei der Farb AG in Bern ein Bewerbungscoaching für mich. Ich bin stolz auf mich, dass ich bei meinem Wunsch hartnäckig geblieben bin und so voller Hoffnung. Nach 6 tollen Coachings bekomme ich eine neue Coachin. Diese beendet nach einer Sitzung das Coaching mit der Begründung, dass ich im Frühjahr 2021 sowieso frühpensioniert werde. Das war die ganze Hilfe – und ich war noch keine 59 Jahre alt …

Ehrlichkeit
Im Journal B habe ich erst kürzlich den Satz «Es gibt genug Menschen, die die Sozialwerke betrügen. Dagegen vorzugehen finde ich richtig» ge-lesen. Dieser Satz eines Sozialhilfeempfängers lässt mich nicht mehr los und zeigt, wie wir, die ganz am unteren Ende der Einkommensskala stehen, mittlerweile unter Druck stehen. Er zeigt aber auch, dass die Saat, die in den letzten Jahren pausenlos gesät wurde, am Aufgehen ist.
Wer definiert im Kontext mit den Sozialwerken eigentlich Betrug und was ist Betrug an den Sozialwerken? Ist es undeklariert zugestecktes Bargeld, sind es nicht geleistete Überstunden, sind es Mietzinse, die sich genau am Limit der Sozialhilfe ausrichten … vielleicht sind es einfach immer nur die Anderen, die uns Fremden?

Oder haben etwa die abertausenden von MitarbeiterInnen dieses aufge-blähten Sozialwerkeverwaltungsapparats ihren Job nicht richtig ge-macht?  Ich weiss, eine Pauschalisierung – herzlich willkommen in der sozialen Hängematte.

Das nächste Mal geht es in «TOLL: Wir spielen Sozialhilfe kürzen!» um Neid, Arbeit und Perspektive.

willkommen in der sozialen hängematte

Im März habe ich mein Sozialhilfebudget bekommen. Rund CHF 2’100.00 pro Monat stehen mir gemäss Sozialdienst der Gemeinde Belp und der SKOS zur Verfügung. Rückwirkend für Februar 2019 hätte ich etwa CHF 700.00 bekommen. Meine persönliche Freiheit und meine Würde waren mir wichtiger und ich habe auf Sozialhilfe verzichtet.

Im März habe ich mit selbständiger Fotografie – also kein vom RAV vermittelter Job – einen Umsatz von CHF 1’879.95 erwirtschaftet. Bis heute Ostermontag, 22. April 2019, habe ich noch keine Arbeitslosen-unterstützung für März bekommen. Auch kein Schreiben, in dem mir begründet wird, wofür ich dieses Mal sanktioniert werde (alle Märzun-terlagen wurden von mir fristgerecht am 2. April bei meiner Arbeits-losenkasse eingereicht). Gemäss Verwaltungsapparat hätte ich jeden Monat durchschnittlich 21,7 Arbeitstage à CHF 80.00 Taggeld abzüglich Zwischenverdienst von meiner Arbeitslosenkasse zu gut.

Für all jene, die mir nicht glauben, lege ich gerne alles offen. Ich habe nichts mehr zu verlieren!

© 2018 I Ueli Hiltpold I Schützenweg9 I CH-3123 Belp I +41 79 302 11 30 I contact

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